Rund 120 verschiedene Orchideen-Arten wachsen auf den Balearen in freier Natur, davon 60 allein auf Mallorca. Es sind hoch entwickelte Pflanzen mit verblüffenden Strategien. Sie heißen Weißes Waldvöglein. Ragwurz. Knabenkraut. Und sie sind die schönen Wilden von den Inseln: Orchideen. „Rund 120 verschiedene Arten gibt es auf den Balearen, davon 60 auf Mallorca“, sagt Eva Moragues, Biologin in der Abteilung Artenschutz im Landes-Umweltministerium in Palma.
Orchideen sind überaus vielfältig, was ihre Lebensform angeht. Sie kommen an den verschiedensten Standorten vor, fühlen sich in Kiefern- und Steineichenwäldern ebenso wohl wie auf Wiesen, gedeihen an Wegrändern, mögen Feuchtgebiete, und sind sowohl in Meeresnähe als auch im Gebirge anzutreffen. Was heißt: Bei ihnen geht’s von Null auf 1.400 Meter.
Manche genießen den Schatten unter Bäumen, weil direktes Sonnenlicht nichts für sie ist. Andere mögen genau das. Jede ist eben eine Spezialistin auf ihre Art. Sie blühen in den allermeisten Fällen in der Zeit von Februar bis Juli, recken sich unscheinbar wie Mauerblümchen in hellem Grün-Weiß in den Himmel oder spektakulär strahlend rosa-violett.
Andere sind weiß, braun, schwarz, tragen mitunter auffällige metallisch blaue Farbtupfer. Und für alle hat Eva Moragues nur eine Beschreibung: außergewöhnlich! Ein Geschenk der Natur. Wilde Orchideen stehen unter Naturschutz. Sie dürfen weder gepflückt noch ausgegraben werden. Auch wenn es derzeit keinen wissenschaftlich fundierten Hinweis darauf gibt, dass der Bestand von Orchideen rückläufig ist, „heißt das nicht, dass es nicht so ist“, sagt die Expertin.
Der Grund: „Es gibt derzeit keinerlei Studien, die die Verbreitung von Orchideen auf den Balearen umfassend beleuchten.“ Fest steht, dass sechs Arten auf dem Archipel gefährdet sind. So findet sich das Stattliche Knabenkraut (Orchis mascula) auf der Roten Liste der bedrohten Arten. Die Gefahr rührt vor allem von zwei Dingen: Zerstörung des natürlichen Lebensraumes sowie wild lebende Ziegen und Schafe. Vor deren großem Orchideen-Appetit ist bis jetzt die Himantoglossum robertianum zum Glück verschont geblieben.
Diese rosa-violette Orchidee – im Deutschen Riesenknabenkraut und im Spanischen Orquídea gigante genannt – gehört zu der häufigsten Spezies auf den Balearen. Sie wiegt sich häufig am Rande von Pfaden im Wind, blüht im Februar und März. Und macht ihrem Namen durchaus Ehre, schließlich bringt sie es auf 80 Zentimeter und mehr. Damit zählt sie zu den größten Wild-Orchideenarten Europas.
Das Weiße Waldvöglein (Cephalanthera damasonium) allerdings folgt ihr nach. Die Pflanze mit den weiß-gelben Blüten kann deutlich über einen halben Meter hoch werden. Sie liebt schattige Plätze und besonders das Tramuntana-Gebirge, wo es im Vorliebe unter Steineichen aus dem Boden sprießt. Kleiner und relativ verbreitet ist die Anacamptis pyramidalis, die purpurne Pyramiden-Hundswurz. Sie bringt es auf 20 bis 40 Zentimeter.
Auch dem violett-weißen Wohlriechenden Wanzen-Knabenkraut (Orchis fragans) kann man mit offenen Augen durchaus in lichten Kiefernwäldern begegnen, es schießt bis 45 Zentimeter in die Höhe. Ebenfalls häufig sind Ragwurz-Arten wie etwa die Braune Ragwurz (Ophrys fusca, bis 40 Zentimeter Wuchshöhe), die besonders hübsche Wespen-Ragwurz (Ophrys tenthredinifera, bis 60 Zentimeter Wuchshöhe) oder die Drohnen-Ragwurz mit ihren kleinen grün-braunen Blüten (Ophrys bombyliflora). Letztere wird zwischen fünf und 30 Zentimetern hoch.
Ragwurz-Arten haben eine Besonderheit: Sie nämlich haben clevere Methoden, mit ihren Blüten Insekten in ihren Bann zu ziehen. Erfindungsreich imitieren sie in Form und Farbe das Aussehen von Weibchen und locken so männliche Exemplare zur vermeintlichen Paarung an. Die Herren der Schöpfung fallen darauf herein, saugen den Nektar und nehmen bei der Gelegenheit gleich die Blütenpollen zwecks Bestäubung mit auf.
Für Eva Moragues sind Orchideen aufgrund solcher Raffinesse hochentwickelte Wesen. Dabei sind sie erdgeschichtlich noch relativ jung. Aber sollten sie in ihrer Evolution in diesem Tempo weitermachen, können wir uns noch auf einiges gefasst machen. Viele Orchideen haben sich zum Beispiel Verbündete im Erdreich gesucht, sind Partnerschaften mit Mini-Pilzen eingegangen. Eine überlebenswichtige Symbiose, können manche Jungpflanzen doch nur auf diese Weise ihre ersten Blätter ausbilden.
Zweiter Teil der Strategie: Da Orchideen Feuchtigkeit lieben, verbreiten sie sich genau dort, wo diese ausreichend vorhanden ist: Und Pilze sind schließlich ein Garant dafür. Fachfrau Moragues findet ein solches Vorgehen ziemlich beeindruckend. „Wissen die Orchideen doch, dass es ihnen in Pilznähe gut gehen wird“, sagt sie schmunzelnd.
Das rosa-violette Sumpf-Knabenkraut (Orchis palustris) liebt nicht nur Feuchtigkeit. Sie steht geradezu auf viel Wasser. Also hat sie sich besonders das Feuchtgebiet s’Albufera als zu Hause ausgesucht. In Blüte steht diese Orchidee von April bis Juni. Und während das Sumpf-Knabenkraut ein Flachländer ist, das Standorte auf Normalnull liebt, will das Cazorla-Knabenkraut hoch hinaus – und ist in Höhen von bis zu 1.400 Metern auf Mallorca anzutreffen.
Erst vor einiger Zeit war auf dem höchstem Berg der Insel, dem Puig Major, diese sehr seltene Art (wieder)entdeckt worden. Die Orchis cazorlensis nämlich war zuletzt in den 1990er Jahren gesichtet worden. Hintergrund: Im Jahr 2011 war am Puig Major von der balearischen Landesregierung mit dem spanischen Verteidigungsministerium ein besonderes Schutzgebiet für die heimische Flora ausgewiesen worden. Und das beinhaltete unter anderem: Ziegen müssen draußen bleiben! Fachleute vermuten, dass die Wurzeln der Orchidee noch im Boden vorhanden waren, zarte Sprossen aber stets dem Hunger der cabras zum Opfer gefallen sind.
Weltweit gibt es rund 20.000 Arten von Orchideen. Sie sind auf allen Kontinenten zu finden und machen nur vor der Antarktis und den frostigen Böden des hohen Nordens halt. Im Mittelmeerraum tauchen sie überall auf. So sind die geheimnisvollen Schönen nicht nur auf den Balearen, inklusive Cabrera und Dragonera, anzutreffen, sondern zum Beispiel auch auf Kreta, Sardinien und dem italienischen Festland …
Text: Kirsten Lehmkuhl
Fotos: Barbara Klar, Servicio de Protección de Especies/Govern Balear